Vor 40 Jahren
In wenigen Tagen liegen zwischen Georg Orwells dystopischen Jahr “1984” und der Zeit in der wir leben 40 Jahre und wiederum 75 Jahre sind seit der Veröffentlichung 1949 vergangen. Orwell konnte nichts über die heutigen technischen Möglichkeiten wissen. Er orientierte sich daran, wie er eine bestimmte Sorte Mensch einschätzte und was passieren würde, wenn man diesen Leuten die Möglichkeit der Überwachung und Manipulation in die Hände geben würde. Den Drang zur Kontrolle, Manipulation, vordergründig zur Minimierung aller Risiken, tatsächlich zur Herrschaftsausübung, gab es bereits ’49, aber im Verhältnis zur Jetztzeit waren sie äußerst beschränkt.
Bei Heise Online las ich über die Pläne der sich konstituierenden großen Koalition in Hessen. Unter anderen ist dort nachzulesen:
Die geplante schwarz-rote Koalition in Hessen hat sich auf ein umfassendes Überwachungspaket verständigt. Sie will damit unter anderem Sicherheitsbehörden wie Polizei und Geheimdiensten “in engen Grenzen und mit richterlicher Anordnung” den “Zugang zu bestehenden privaten audiovisuellen Systemen” gestatten. Fahnder und Agenten sollen so im Rahmen der bestehenden rechtlichen Befugnisse “beispielsweise die Wohnraumüberwachung durchführen” können, heißt es im Koalitionsvertrag, den CDU und SPD am Montag unterzeichneten. Das Vorhaben erinnert an die umstrittene Initiative der Innenministerkonferenz 2019, intelligente Sprachassistenten wie Amazon Alexa, Google Home oder Apple Siri genauso anzuzapfen wie “intelligente” Fernseher, Kühlschränke oder Türklingeln.
https://www.heise.de/news/Polizeibefugnis-CDU-und-SPD-in-Hessen-wollen-digitale-Wanzen-im-Wohnzimmer-9577621.html
Die Taktik wird seit Jahrzehnten verfolgt. “Wir wollen doch nur Sicherheitsrisiken minimieren. Alles im rechtlichen Rahmen und unter Vorbehalt eines Richters!” Meiner Erfahrung nach sind Richter*innen keine Überwesen und unter ihnen befinden sich genügend Charaktere, die mit Vorsicht zu genießen sind. Allerspätestens mit der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen “Klima-Aktivisten*innen” wegen der Bildung einer “Kriminellen Vereinigung” hat die seit 1989 bestehende Bundesrepublik Deutschland ihre Unschuld verloren und signalisiert, wo es hingehen soll. Wie ich es bereits einige Male im BLOG darlegte, hängt an diesem Paragrafen einiges dran. Mit dem Verfahren ist klar erkennbar, wie niedrig die Schwelle geworden ist, bis Mitbürger*innen für entscheidende Stellen des Systems zu bedrohlichen Extremisten und Kriminellen werden. Außerdem werden umfassende polizeiliche Maßnahmen zur Überwachung der unmittelbaren Protagonisten, aber auch ihres weiteren Umfelds ermöglicht. Und mir scheint, dass die Schwelle kontinuierlich gesenkt wird.
Bemerkenswert finde ich dabei den Umstand, dass die Verfassungsschützer die Einstufung als gefährliche Extremisten verneinte und im gleichen Zuge die Überwachung mit nachrichtendienstlichen Mitteln ablehnte. Später folgte die Innenministerkonferenz und mit einem Mal gelangte die Kriminelle Vereinigung in den Diskurs. Wobei ich mir die Frage stelle, warum nicht gleich als „lex specialis“ die Terroristische Vereinigung angewendet wird. Immerhin treten Vertreter von allen im Bundestag vertretenen Parteien ans Pult und sprechen von Terroristen*innen. Wenn schon, dann richtig.
Ein weiterer Aspekt bleibt häufig unbeachtet. Überwachung erforderte in analogen Zeiten einen erheblichen finanziellen, personellen und logistischen Aufwand. Bereits dies setzte die Messlatte recht hoch. Ob und in welchem Umfang Personen überwacht wurden, erforderte eine Kosten/Nutzen – Analyse. Im Zeitalter der Digitalisierung ist vieles deutlich günstiger geworden. Rhetorisch ergeben sich zwei Richtungen. Entweder, kann Dank der Digitalisierung im erforderlichen Maß überwacht werden, wohingegen noch in den 90ern ein gefährliches Defizit bestand oder es besteht die Gefahr des Übermaßes.
Wenn es um Überwachung geht, sind Menschen nicht objektiv und rational, sondern im höchsten Maße irrational und paranoid unterwegs. Ein wenig spukt bei vielen im Kopf herum: “Ich hab zwar nichts gemacht, aber wer weiß …” Allein schon, weil Deutsche bezüglich der Überwachung auf ganz eigene Erfahrungen zurückblicken können. Machen wir uns nichts vor, die Möglichkeiten der Staatssicherheit sind im Vergleich zu denen im Jahr 2023 ein Kindergeburtstag gewesen. Ausschlaggebend ist nicht, was tatsächlich passiert, sondern was als möglich angenommen wird. Solche Sachen verändern eine Gesellschaft oder anders gesagt, sie sind ein schleichendes Gift.
Hinsichtlich der Faktenlage gebe ich auch zu bedenken, welchen erheblichen Aufwand mittlerweile investigative Journalisten*innen betreiben müssen, um ihnen zugespieltes Material an einflussreichen Politikern*innen, Personen aus der freien Marktwirtschaft, die mit ihnen vernetzt sind und Institutionen, wie BfV, BND, BKA, vorbeizuschmuggeln, damit sie veröffentlicht werden können (z.B. Panama Papers, BND U-Boot Affäre, Cum Ex-Files).
Ohne jegliche Überwachung oder Infiltration krimineller, terroristischer Kreise geht es innerhalb der von uns gewählten Ordnung nicht. Aber zwei Fragen müssen zwingend auf dem Tisch liegen und überdacht werden: Wann wird ein Kipppunkt erreicht, an dem die Nachteile der Überwachung die Vorteile überschatten? Was passiert, wenn die vorhandenen Mittel, Freigaben und Gesetze, denen in die Finger gelangen, die man abwehren wollte? Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eben genau dies eins der Ziele von Terror ist: die Provokation von Reaktionen, die nach und nach die freie Gesellschaft abschaffen und aus Sicht der Terroristen zur Demaskierung zwingen.
Sicherheit und Freiheit liegen auf einer Strecke. Je mehr ich mich gegen alles Erdenkliche absichere und die Risiken minimiere, umso mehr gebe ich von der Freiheit auf. Ein hermetisch abgeriegelter Bunker ist ein sicherer Platz, gleichzeitig ist er aber auch Gefängnis. Wie viele Risiken muss eine freie Gesellschaft aushalten? Wie groß ist das Interesse an ihr oder ist sie einer gesellschaftlichen Mehrheit unheimlich bzw. zu anfällig für Gefahren?
Wobei an der Stelle auch zu betrachten ist, welche Gefahren, welcher Qualität, von wem und für was gesehen werden. Ob zum Beispiel eine Straßenblockade ein zu- oder unzulässiges Mittel des Protestes ist und welche Gefahrenlage durch sie entsteht, ist nicht davon abhängig, wer sie durchführt. Die Gefahr an sich wird nicht durch die Häufigkeit der Blockaden qualifiziert. Jede ist für sich zu betrachten. Jedenfalls, solange sie nicht Teil einer konzertierten Aktion ist und mehrere gleichzeitig stattfinden. Ein Bauernprotest, in dessen Zuge eine Blockade mit landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen herbeigeführt wird, erzeugt die gleiche Gefahrenlage, wie ein Protest gegen die unzulänglichen Maßnahmen der Regierung bezüglich der Klimakatastrophe. Eine unterschiedliche Bewertung ist unlogisch und dennoch findet sie medial, gesellschaftlich und politisch statt. Es erschließt sich mir nicht, warum die einen Protagonisten „Kriminelle“ sind die anderen nicht.
Bezüglich der Klimaaktivisten wurde angeführt, dass Rettungskräfte nicht mehr ihren Aufgaben nachkommen könnten. Sollte es an dem tatsächlich sein, haben wir in Deutschland ein eklatantes Sicherheitsproblem. Dies bedeutete, dass jede Baustelle, jeder Stau und auch jedes terroristische Szenario die Rettungs- und Sicherheitskräfte vor unlösbare Aufgaben stellen würde. Gut, dass das nicht der Fall ist. Versierte gut ausgebildete Kraftfahrer finden ihren Weg und relevante Gebäude haben aus solchen Gründen mehrere Zu – und Ausfahrten. Wenn es eine handfeste Gefahr gibt, dann ist es die Reduzierung der Anzahl von Rettungsfahrzeugen und Personal. Insofern ist die Argumentation vorgeschoben und verschleiert, worum es tatsächlich geht. Der Protest ist lästig und ihm soll deshalb der Garaus gemacht werden. Kurzum: Der Protest wird in interessanter Art und Weise kriminalisiert, damit wiederum die Überwachung des Protestes legitim erscheint.
Nochmals: Überwachung an sich ist bis zu einem gewissen Maße, an den richtigen Stellen eins von vielen notwendigen Mitteln der Abwehr von Gefahren, bei denen das Eintreten eines erheblichen Schadens im hohen Maß wahrscheinlich ist oder wenn es um die Aufklärung schwerwiegender oder gemeingefährlicher Taten geht.
Edward Snowden deckte auf, welche Ausmaße die Überwachung in den USA hat. Es wäre wahrlich naiv, US-amerikanische Verhältnisse für Deutschland als unmöglich einzustufen. Ganz im Gegenteil, wenn man berücksichtigt, dass offen gefordert wird, in den USA angewendete Software, Stichwort: Palantir Gotham u.a., in Deutschland zu legitimieren. Die von Palantir gelieferte Software ist keine, die der Überwachung und Erlangung von Daten dient, sondern sie ermöglicht die Analyse und Verknüpfung großer Datenmengen.
Zuerst müssen die Daten vorhanden sein, ansonsten ist die Software nutzlos. Wer sie also fordert, sitzt bereits auf einer ganzen Menge Datensätze und benötigt ein Werkzeug, mit dem sie effizient ausgewertet werden können. Mich macht das nachdenklich. Einige Systemkritiker sehen als eine der größten Gefahren für die freien demokratischen Gesellschaften die fortschreitende Verzahnung der Wirtschaft, hier besonders multinationale Konzerne, mit der Politik. Sie begründen dies mit dem Aufbau der Konzerne, die mit Demokratie gar nichts am Hut haben, sondern rein über Profite, Wachstum, strukturiert sind und eine Hierarchie aufweisen, die nach den vorstehenden Kriterien von oben nach unten wirkt. Deshalb fordern sie von den Regierungen einen Schutz der Bevölkerungen vor den Begehrlichkeiten der Konzerne.
Wenn nun privatwirtschaftlich gesammelte Daten mit aus staatlichen Verwaltungsdaten und mittels polizeilicher bzw. nachrichtendienstlicher Vorgänge generierten, zusammenfinden, übergreifend mit Programmen ausgewertet werden, ist die alte Dystopie endgültig Realität geworden und neue Befürchtungen entstehen.
Ich kann mir gut vorstellen, das ein bestimmtes Konsumverhalten, Seh- und Leseverhalten, bevorzugte Aktivitäten, einige dazu verleiten könnten, eine „Gefährderanalyse“ durchzuführen, die dann wiederum bisher unauffällige Personen in den Fokus rückt. Schulden, mangelnde Kreditwürdigkeit, bei Amazon subversive Literatur bestellt, in der Playlist diverse Protestsongs gelistet, Internet-Recherchen zu Themen wie Ökologie, Klima, Umtriebe von multinationalen Konzernen, Wirtschaftskriminalität, fertig ist der potenzielle politische Gefährder, dem man etwas genauer unter die Lupe nehmen sollte.
Immerhin existieren bereits Programme, die Bewegungen und Verhalten von Passanten oder Besuchern öffentlicher Plätze, Flug – und Bahnhöfen analysieren und bei bestimmten Parametern Alarm schlagen. Ich finde den Gedanken naheliegend, dies auf das oben dargestellte auszuweiten – wenn es denn der allgemeinen Sicherheit dient, warum nicht? Und wer die richtigen Bücher liest, nicht zu sehr alles hinterfragt und hinnimmt, was offiziell proklamiert wird, sich auf kommerziellen Mainstream beschränkt, hat nichts zu befürchten. So what?
Wie eingangs gesagt: Orwell entwickelte seine Dystopie auf Basis der vorhandenen Bedürfnisse der Mächtigen und einiger Gesellschaftsanteile, ohne dass alle notwendigen Techniken existierten. Darüber sind wir hinaus. Was technisch möglich ist und sein wird, zeichnet sich konkret ab. Stellt sich nur eine Frage: Haben sich die damaligen Bedürfnisse und Begehrlichkeiten verändert? Die Antwort lasse ich offen.